Unbekanntes Wrocław: das Staatsarchiv

Data aktualizacji: 2016-10-18

Es ist wohl das am häufigsten von Ausländern besuchte Amt in Wrocław. Manche kommen sogar für mehrere Tagen, um hier nach Informationen zu suchen. Unter den Besuchern sind polnische und ausländische Genealogen, Historiker, Archäologen, Politologen, Soziologen, Ethnografen, Sprachwissenschafter, Geografen, Geologen, Natur- und Wirtschaftswissenschaftler. Der größte Schatz des Staatsarchiv sind die 15 Kilometer Akten.

Auf der einen Seite der J. Zwierzycki-Boulevard, auf der anderen die ul. Pomorska. An der Ecke ein massives Gebäude mit zwei Kellergeschossen, das sich noch an die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert. Heute teilt sich das Staatsarchiv (Archiwum Państwowe) das Gebäude mit der Universität Wrocław. Zu Zeiten des Sozialismus gab es noch einen weiteren Nachbarn, das Woiwodschafts-Komitee der polnischen Arbeiterpartei. Im Inneren ein Labyrinth aus Gängen, Räumen und riesigen Depots, in denen man – wenn es die Bestände nicht gäbe - Fußballspiele austragen könnte. Um hinter alle Türen zu blicken, braucht man mehrere Tage. Unser Führer war Remigiusz Kazimierczak, stellvertretender Direktor des Staatsarchivs in Wrocław. Mehrere Stunden lang haben er und die Archivmitarbeiter geduldig aus den Regalen und Schubladen all das herausgeholt, was am interessantesten ist - Raritäten aus Pergament, einzigartige Karten und Pläne.

Jahrhundertealte weiße Raben

Die ältesten Dokumente und Karten Wrocławs aus dem 13. Jh. können sich noch an die Schlesischen Piasten erinnern. 15 Tsd. Pergamentdokumente beziehen sich auf Wrocław. Das älteste Dokument Wrocławs ist die Gründungsurkunde - vom 11. Dezember 1261 mit fünf Siegeln – ausgestellt vom Herzog Heinrich III. den Weißen und Władisław, Erzbischof zu Salzburg (die Söhne Heinrichs des Frommen). Das älteste Dokument in den Beständen ist die Gründungsurkunde des Zisterzienserklosters Lubiąż (Leubus) von 1175, ausgestellt durch Herzog Bolesław I. den Langen, mit dem ältesten erhaltenen Siegel in Schlesien.

- „Vor 700 Jahren wurde für die wichtigsten Dokumente Pergamenthaut aus der Gebärmutter der Mutter eines ungeborenen Kalbes verwendet. Bis heute sind sie im perfekten Zustand erhalten geblieben, mit deutlicher, nicht ausgeblichener Schrift und lebendigen Farben. Die am schlechtesten erhaltenen Dokumente stammen aus der Zeit der Volksrepublik Polen, als Papier von sehr schlechter Qualität verwendet wurde, das heute in den Händen zerfällt“ – erklärt Roman Stelmach, Abteilungsleiter im Staatsarchiv in Wrocław, der dort seit 40 Jahren arbeitet und zu den ältesten Mitarbeitern zählt.

Nobelpreisträger im Staatsarchiv

Im Depot der preußischen Akten befinden sich u.a.  die Standesamtbücher. Man kann dort Geburts- oder Sterbeurkunden der Künstler und Nobelpreisträger aus  dem Wrocław der Vorkriegszeit finden, z.B. von Max Born, der am 11. Dezember 1882 in Wrocław zur Welt kam.

- „Nur wenige wissen, dass er der Großvater der australischen Sängerin und Schauspielerin Olivia Newton-John ist“ - sagt Jan Drozd, Abteilungsleiter im Archiv.

Warum kamen die preußischen und deutschen Dokumente nach dem Krieg nicht nach Deutschland?

- „Die Archivregel lautet, dass Materialien, die auf einem Gebiet entstanden sind, in den örtlichen Archiven aufbewahrt werden sollen“ – sagt Remigiusz Kazimierczak.

Deshalb findet man unter den Besuchern Bewohner in Wrocławs aus der Vorkriegszeit, die heute in Deutschland oder Österreich wohnen und u.a. Geburtsurkunden ihrer Vorfahren suchen.

Archivbestände können nützlich sein, um die Rentenhöhe zu berechnen

Unter den Nutzern des wissenschaftlichen Lesesaals überwiegen Genealogen und Historiker, aber immer öfters sind es auch Juristen, Archäologen, Politologen, Soziologen, Ethnografen oder Sprachwissenschafter. Das Archiv besuchen auch Forscher, die keine Verbindung zu humanistischen Fächern haben, wie etwa Geografen, Geologen, Natur- und Wirtschaftswissenschaftler. Archivmaterialien werden auch für Amtszwecke benutzt. Die Dokumente werden kostenlos zur Verfügung gestellt.

- „Auf Grundlage der erhaltenen Materialien bestätigt das Archiv die Arbeitszeiten (aus der Zeit der Volksrepublik Polen), aber auch die Zwangsarbeit für das Dritte Reich aus dem 2. Weltkrieg. Außerdem bestätigt das Archiv den Umsiedlern aus den ehemaligen Ostgebieten Polens auf der Grundlage der Akten des ehemaligen Staatlichen Amtes für Umsiedlung die dort zurückgelassenen Besitztümer, fertigt Kopien der Matrikelbücher an etc. – erzählt Remigiusz Kazimierczak auf.

26 Kilometer Akten

Das Staatsarchiv in in Wrocław mit seinen Abteilungen in Jelenia Góra, Kamieniec Ząbkowicki, Legnica und Bolesławiec zählt zu den größten in Polen. Seine Bestände umfassen rund 26 Tsd. laufende Meter Akten (über 15 km werden in in Wrocław aufbewahrt), darunter über 65 Tsd. Pergament- und Papierdokumente, 122 Tsd. Karten und Pläne, Hunderttausende Bücher, riesige Siegelsammlung, sowie Fotos. Die Bestände werden digitalisiert und auf elektrische Speichermedien übertragen.

Ins Archiv gelangen meistens Dokumente, die älter als 30 Jahre sind. Im Fall der Matrikelbücher sind es 100 Jahre. Hier werden alle Akten gesammelt, die unbegrenzt lange aufbewahrt werden.

Warum befindet sich das Archiv in der ul. Pomorska?

Das war ein Zufall. Das Gebäude in der ul. Pomorska hat die Kriegswirren unbeschadet überstanden. Das war aber nicht der erste Umzug in der Geschichte des Archivs. Es wurde 1811 gegründet, im Zusammenhang mit der Säkularisierung der Klöster in Schlesien und der Notwendigkeit, riesige Mengen von Archivalien sicher zu stellen, die in den Klöstern durch Jahrhunderte gesammelt wurden. Das Archiv war ein Teil der Zentralbibliothek, die ebenfalls 1811 entstand, und ähnlich wie die Bibliothek wurde es im ehemaligen Klostergebäude der Augustiner-Chorherren Maria auf dem Sande in in Wrocław beherbergt. 1847 zog das Archiv in das Haus der Schlesischen Stände am heutigen pl. Wolności. Anfang des 20. Jh. wurde es in das neu errichtete Bauwerk am heutigen pl. Grunwaldzki verlegt.

- „Die größte Katastrophe in der rund zweihundertjährigen Geschichte des Archivs waren die letzten Monate der Belagerung der Festung Breslau, als das Gebäude teilweise zerstört und die in unteren Geschossen befindlichen Akten zerstört wurden. Die Verluste umfassten 10 bis 95% ausgewählter Bereiche. Verloren gingen etwa 80% der Pergamentdokumente und ein Großteil der kartografischen Bestände“ – sagt Remigiusz Kazimierczak

Das Staatsarchiv kann jeder besuchen. Die Ansicht und Benutzung der Bestände ist kostenlos. Die Einrichtung funktioniert ähnlich wie eine Bibliothek. Man gibt die Bestellung ab und wartet auf die Materialien. Das Archiv ist Montag bis Freitag von 9.00-18.00 Uhr, am Samstag  von 8.00-13.00 geöffnet.

Zdjecie Jarek Ratajczak

Jarek Ratajczak